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In den
1920er-Jahren erlebt Stuttgart eine aufregende Zeit – voller Freiheiten und
Vergnügungen und mit einer jungen Kunstszene
Bilder einer Stadt auf dem Weg
in
die Moderne
Hans Scharoun, Wohnhaus in der Weissenhofsiedlung
(1927);
Bildnachweis: TMBW / Gregor Lengler
Spannende Jahre: 1922
feiert Oskar Schlemmers Triadisches Ballett in Stuttgart Uraufführung. Die
Metropole am Neckar entwickelt sich zur Automobilstadt. Schon 1924 gibt es hier
prozentual zur Bevölkerung mehr Kraftfahrzeuge als in Berlin. Mercedes-Benz
wirbt mit dem Typus der sogenannten neuen Frau für seine Fahrzeuge – mit Damen,
die Bubikopf zu dunkel geschminkten Augen tragen.
1927 berichtet die Weltpresse von New York bis Moskau über die
Bauausstellung am Weissenhof. Und 1929 schließlich tritt die legendäre Tänzerin
Josephine Baker spärlich bekleidet im Friedrichsbau auf und wird gefeiert. Die
Kinos, Tanzbars und Badeanstalten boomen. Im Sommer besuchen viele Stuttgarter
die Waldheime, die Arbeitervereine Anfang des Jahrhunderts errichtet haben.
Weil die tägliche Arbeitszeit vieler Angestellter und Arbeiter reduziert worden
ist, haben die Menschen abends freie Zeit, um sich zu vergnügen. Öffentliche
Verkehrsmittel erlauben ihnen zudem eine neue Mobilität. Stuttgart ist im
Rausch von Moderne, Kunst, Tempo, Freiheit.
„Wir
haben in Stuttgart das Bauhaus erfunden“
Natürlich gibt es in vielen Metropolen Europas Goldene
Zwanzigerjahre. Die Engländer nennen sie die Roaring Twenties, die Franzosen
Les Années Folles. Verrückt sind diese Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wirklich
nicht nur in Berlin. „Stuttgart hatte schon damals ein sehr modernes Image“,
erzählt Anja Krämer, die das Weissenhofmuseum im Haus Le Corbusier leitet. Und
Steffen Egle, Leiter Bildung und Vermittlung in der Staatsgalerie Stuttgart,
ergänzt: „Auch in der Museumspolitik war Stuttgart ein Hotspot. Man dachte in
der Staatsgalerie sehr modern und interessierte sich für expressionistische
Kunst.“ Schon seit 1905 lehrt an der Kunstakademie zudem Adolf Hölzel, der als
wichtiger Vertreter der Moderne gilt und der um sich begabte junge Künstler wie
Oskar Schlemmer, Johannes Itten, Willi Baumeister und Ida Kerkovius versammelt.
„Man kann mit Fug und Recht sagen: Wir haben das Bauhaus erfunden“, meint Nils
Büttner, Professor für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte und Mitglied des
Rektorats an der heutigen Staatlichen Akademie der Bildenden Künste. Denn in
der Ausbildung bei Hölzel gibt es eine Grundlehre und Werkstätten wie später am
Bauhaus. Schlemmer und Itten entwickeln viele der Hölzel-Ideen später am
Bauhaus in Weimar weiter.
Wo kann man diese neue Kunst von damals heute noch erleben?
Natürlich in der Staatsgalerie Stuttgart, wo neben dem Triadischen Ballett
weitere wichtige Werke von Oskar Schlemmer zu sehen sind. Außerdem hängen dort auch fast
immer Bilder von Willi Baumeister und Ida Kerkovius – neben vielen Hauptwerken der
internationalen Moderne natürlich. Im Kunstmuseum Stuttgart am Schlossplatz
gibt es ebenfalls mehrere Räume mit Bildern von Künstlern, die in den
1920er-Jahren Stuttgarts Ruf als spannende Kunststadt begründeten. Auch viele
Bilder von Otto Dix sind dort zu sehen, unter anderem das Triptychon
„Großstadt“.
Im
Witwen-Express zum Waldfriedhof
Aber nicht nur Kunstwerke sind geblieben: Der Tagblattturm, 1924
als erstes Stahlbeton-Hochhaus Deutschlands geplant, ist ein Wahrzeichen der
Stadt geworden. Einst gab es dort den mit 15 Stockwerken höchsten Paternoster
der Welt. Heute ist in dem Gebäude das Kulturareal „Unterm Turm“ zu Hause – mit
mehreren Theatern und kulturpädagogischen Einrichtungen. Mit
der alten, hölzernen Standseilbahn, die einst den Spitznamen Witwen- oder
Erbschleicher-Express hatte, zuckelt man schon seit dem 30. Oktober 1929 ab dem
Südheimer Platz in Heslach zum Waldfriedhof hinauf, wo man die Gräber wichtiger
Prominenter, unter ihnen Oskar Schlemmer oder Adolf Hölzel, besuchen kann.
Und nachts, da trifft sich Stuttgarts Szene an einem ehemaligen
Klohäuschen von 1926 – am Palast der Republik in der Friedrichstraße. Weil’s
drinnen so eng ist, wird meistens auf dem ganzen kleinen Platz gefeiert. Auch
viele Waldheime sind geblieben. Noch heute sitzt man an schönen Sommerabenden
in Heslach oder Sillenbuch und genießt zum Feierabendbier Maultaschen oder
Linsen mit Spätzle.
Eine
Bar wie vor 100 Jahren
Und eine brandneue 1920er-Jahre-Location hat Stuttgart auch, noch
dazu eine ziemlich exklusive: das im Stil der damaligen Zeit eingerichtete
Jigger & Spoon in der Gymnasiumstraße – eine Cocktailbar in einem
ehemaligen Banktresor. Man muss klingeln, um eingelassen zu werden, und dann
mit dem Fahrstuhl erst einmal zwei Stockwerke abwärts fahren. „Wir wollten an
die Tradition der amerikanischen Speak-Easy-Bars während der Prohibition
anknüpfen“, erzählt Eric Bergmann, dem gemeinsam mit Uwe Heine die Bar gehört.
Zehn Monate hat es gedauert, um aus dem Tresor eine Location wie vor 100 Jahren
zu machen, natürlich mit WLAN und modernen Cocktails. An wertvolle Schätze
erinnern nur die Vergitterungen der ehemaligen Tresorräume. Aber eine Goldgrube
ist das Jigger & Spoon immer noch. Stuttgart feiert gern hier unten. Ein
bisschen Underground. Ein bisschen Avantgarde. Bis heute.
Weitere
Informationen:
Zu
Stuttgart und seiner Kunst: www.stuttgart-tourist.de
Buch-Tipp:
Mehr über die Stuttgarter Avantgarde der Zwanzigerjahre gibt es im
frisch erschienenen Buch „Stuttgart und das Bauhaus“ von Anja Krämer und Inge
Bäuerle (136 Seiten, Belser Verlag Stuttgart, 25,00 €, ISBN 978-3-7630-2822-1).
Dieter Buck
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